TOP 1: Newsletter-Serie zu unserer Leitlinienarbeit

Heute: Nationale Versorgungs-Leitlinie „Unipolare Depression“ 

 

Liebe Mitglieder,

heute berichtet Herr Prof. Dr. med. Thomas Messer über die Neufassung der Nationalen Versorgungs-Leitlinie (NVL) Depression. 

Thomas Messer ist Ärztlicher Direktor der Danuviusklinik GmbH und Chefarzt der Danuviusklinik Pfaffenhofen an der Ilm, einer Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie begann seine berufliche Karriere 1988 an der Psychiatrischen Klinik der LMU in München, danach war er von  1999-2010 geschäftsführender Oberarzt am Bezirkskrankenhaus Augsburg. Seit 2010 leitet er die Danuviusklinik in Pfaffenhofen an der Ilm. Seine klinischen Schwerpunkte sind Verlaufs- und Versorgungsforschung, Psychopharmakotherapie, Notfallpsychiatrie, darüber hinaus engagiert er sich in der sozial- und zivilrechtliche Begutachtung. Für die DÄVT ist er der Leitlinienbeauftragte bei der AWMF und er vertrat als Delegierter die DÄVT bei der Erarbeitung der NVL Depression.

Nationale Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression (2022)

Seit dem 29. September 2022 ist die aktuelle Version 3.0 der nationalen VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression publiziert. Sie ist bis zum 29. September 2027 gültig.

Bereits seit 2003 existiert das Programm für nationale VersorgungsLeitlinien unter der gemeinsamen Trägerschaft von Bundesärztekammer (BÄK) Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF). Bislang wurden nationale VersorgungsLeitlinien unter anderem zu Asthma, chronischer Herzinsuffizienz, COPD, Hypertonie, Typ II Diabetes und nun auch in revidierter Fassung zur unipolaren Depression erarbeitet. Ziele des NVL-Programms sind unter anderem Empfehlungen zu versorgungsbereichsübergreifenden Vorgehensweisen entsprechend dem besten Stand der medizinischen Erkenntnisse unter Berücksichtigung der Kriterien der evidenzbasierten Medizin zu geben. Die NVL-Methodik beinhaltet zum einen unterschiedliche Evidenzgrade (I starke Evidenz, II mäßige Evidenz, III-IV schwache Evidenz), aus denen sich die Empfehlungsgrade (Soll        , sollte    oder kann        ) ergeben. An der Erarbeitung beteiligten sich 32 Fachgesellschaften bzw. Organisationen in einer Leitliniengruppe. 

Wesentliche Ziele der NVL unipolare Depression, Version 3.2, sind:

  • Eine Verbesserung der Diagnostik zur Vermeidung von Über- und Unterdiagnostik. Dies beinhaltet die Schärfung der Schweregradeinstufung, die Erfassung subjektiver Symptome und die Berücksichtigung des bio-psycho-sozialen Modells gemäß der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF).
  • Die Stärkung der Kommunikation zwischen Behandelnden und Patient*innen mit dem Ziel, die gemeinsame Entscheidungsfindung sowie die Adhärenz zu gemeinsam vereinbarten Therapiezielen zu fördern.
  • Eine stärkere Berücksichtigung niedrigintensiver Interventionen inklusive technologiebasierter Anwendungen.
  • Eine individuellere medikamentöse Therapie mit spezifischen Empfehlungen zum Absetzen.
  • Eine verstärkte Berücksichtigung von psychischen und somatischen Komorbiditäten.
  • Eine verbesserte Suizid-Prävention.
  • Die Aufnahme ICF-orientierter Empfehlungen zu Rehabilitation und Teilhabe mit besonderer Berücksichtigung des Zusammenhanges von Arbeit und psychischer Gesundheit.
  • Eine verbesserte Kenntnis von verfügbaren Leistungen, deren Anbietern und den Zugangswegen, ein verbessertes Management von Schnittstellen zwischen den Sektoren und eine verbesserte Koordination und Kommunikation der beteiligten Berufsgruppen.
  • Eine verbesserte Handhabbarkeit der Leitlinie durch Entwicklung von Abbildungen, Tabellen und Algorithmen sowie praxisnahen Materialien für Behandelnde und Patient*innen.
  • Eine bessere Disseminierung und Implementierung der Leitlinie bei Behandelnden, Patient*innen und Entscheidungsträgern.

 

Was wurde im Vergleich zur Version 2.0 verändert?

Strukturell

  • Gliederung nach Behandlungs- bzw. Erkrankungsphasen sowie nach Schweregrad der Depression
  • Verschieben der Empfehlungen zur Durchführung der Therapie in das neue Kapitel Therapieprinzipien; Vereinheitlichen der behandelten Aspekte für Pharmako- und Psychotherapie

Inhaltlich

  • Medikamentöse Erhaltungstherapie 6-12 Monate nach Remission (bisher 4-9 Monate) -> Anpassung an Studienlage
  • Maßnahmen bei Nichtansprechen von Antidepressiva: neue Empfehlung zur Kombination mit Psychotherapie, Änderung der Empfehlungsgrade für einige der Strategien, neue Empfehlung zur Kombination mit repetitiver Magnetstimulation (rTMS)
  • Maßnahmen bei Therapieresistenz: Erhöhung des Empfehlungsgrades für rTMS
  • Behandlung chronischer Formen: Neuformulierung der Empfehlungen auf Basis klinischer Erwägungen -> Vorgehen wie bei akuter Episode gemäß schweregradspezifischen Empfehlungen bzw. gemäß Empfehlungen zu Maßnahmen bei Nichtansprechen/Therapieresistenz
  • Lichttherapie: Zusätzliche Empfehlung bei Depressionen ohne saisonales Muster

Welche Empfehlungen sind neu in Version 3.0?

  • ICF-basierte Diagnostik (funktionale Beeinträchtigung, psychosoziale Folgen, Teilhabeeinschränkungen
  • Vereinbarung individueller Therapieziele
  • Therapieprinzipien der Psychotherapie (analog zu vorhandenen Inhalten zur Pharmakotherapie)
  • Pharmakogenetische Testung
  • Absetzen von Antidepressiva
  • Internet- und Mobilbasierte Interventionen (Indikation, Begleitung, Monitoring) 
  • Entscheidung über Arbeitsunfähigkeit 
  • Esketamin intranasal, Ketamin IV
  • Ernährungsbasierte Interventionen
  • Maßnahmen bei Nichtansprechen einer Psychotherapie
  • Komplexe Versorgungsformen z. B. Disease-Management-Programmen
  • Entlassmanagement
  • Indikationsstellung für psychosomatische bzw. psychiatrische Rehabilitation sowie für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Hervorzuheben ist, dass in den Behandlungsalgorithmen bei leichtgradiger akuter depressiver Episode neben einer psychotherapeutischen Basisbehandlung (Gesprächsleistungen außerhalb der Richtlinienpsychotherapie) auch internet- und mobilbasierte Interventionen (IMI) angeboten werden sollen, eingebettet in ein therapeutisches Gesamtkonzept. Bei mittelgradiger oder schwerer Depression sollen internet- und mobilbasierte Interventionen als alternativer Behandlungsansatz angeboten werden, wenn die Patient*innen sowohl Psychotherapie als auch Antidepressiva ablehnen. Bei Nichtansprechen einer Psychotherapie soll nach Evaluation der Ursachen (Intervision, Supervision) sowohl patientenbezogene Faktoren als auch negative Auswirkungen einer Psychotherapie benannt, sodann eine Therapieanpassung und gegebenenfalls Intensivierung der Psychotherapie vorgenommen werden. 

ICF-basierte Diagnostik

Neben der Symptomatik ist auch die Erfassung der aus den Depressionen resultierenden funktionalen Beeinträchtigungen, der psycho-sozialen Folgen und Teilhabeeinschränkungen integraler Bestandteil des diagnostischen Vorgehens, denn sie sind elementar für die Formulierung individueller Therapieziele, die Wahl der Behandlung und die Initiierung rehabilitativer Angebote, z. B. zum Erhalt der Arbeitsfähigkeit. Onlineprogramme können eine wirksame niedrigschwellige Therapieoption darstellen. Die Leitlinie empfiehlt die Nutzung evidenzbasierter Anwendungen mit therapeutischer Begleitung nach einer fachgerechten Diagnostik und Indikationsstellung und mit einem regelmäßigen Monitoring von Adhärenz und Wirksamkeit, bei leichten Depressionen als alleinige und bei mittelschweren oder schweren Depressionen als zusätzliche Intervention.

Arbeitsunfähigkeit

Ein neues Kapitel diskutiert die psychosozialen und arbeitsplatzbezogenen Faktoren für die Entscheidung über eine Krankschreibung. Entlastenden Effekten stehen negative Folgen wie z. B. Deaktivierung, Verlust des Tagesrhythmus und Reduzierung sozialer Kontakte gegenüber.

 

Rehabilitation und Teilhabe

Das neue Leitlinienkapitel legt den Fokus auf die Indikationsstellung für eine psychosomatische bzw. psychiatrische Rehabilitation sowie auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben.

Behandlung nach Schweregrad

Welche Behandlung empfehlenswert ist hängt davon ab, wie viele Symptome auftreten, wie schwer sie ausgeprägt sind und wie stark sie die Patientin einschränken. Bei einer ersten leichten depressiven Episode sollen zuerst niedrigschwellige Interventionen angeboten werden, z. B. durch beratende Gespräche oder Onlineprogramme. Bei mittelschweren Depressionen oder bei rezidivierenden leichten Episoden kommen eine Psychotherapie oder eine medikamentöse Behandlung in Frage. Bei schweren Depressionen sollen beide Ansätze kombiniert werden.

Maßnahmen bei Nichtansprechen

Schlägt die Behandlung nicht an ist es wichtig, die Ursachen dafür zu finden. Die Leitlinie enthält einen evidenzbasierten Algorithmus zum Vorgehen bei Nichtansprechen auf Antidepressiva. Empfohlen werden z. B. die Kombination bzw. Augmentation mit Psychotherapie, mit anderen Medikamenten oder mit neurostimulatorischen Verfahren. Außerdem formuliert die Leitlinie erstmals auch Empfehlungen zum Nichtansprechen auf Psychotherapie. Die NVL konzentriert sich dabei auf die in Deutschland ambulant verfügbaren und erstattungsfähigen vier psychotherapeutischen Verfahren, die gemäß der Psychotherapierichtlinie des gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) sozialrechtlich anerkannt sind: Psychoanalyse, tiefenpsychologische Psychotherapie, Verhaltenstherapie, systemische Therapie. So soll bei ausbleibender Besserung nach 8-12 Wochen die mögliche Ursache abgeklärt und über eine Anpassung des psychotherapeutischen Vorgehens entschieden werden. Als denkbare Gründe für ein Nichtansprechen auf Psychotherapie werden eine fehlende Passung von Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit der Persönlichkeit der Patient*innen oder auch die Auswahl eines inadäquaten Verfahrens genannt. Ein Verfahrenswechsel könnte nach Leitlinie angezeigt sein, wenn z.B. in der Verhaltenstherapie eine aktive Mitarbeit abgelehnt wird oder bei einem psychodynamischen Verfahren die Patient*innen  Schwierigkeiten haben, sich dem symptomtragenden Konflikt zuzuwenden. Darüber hinaus sollte insbesondere bei komplex erkrankten Patientinnen und Patienten und/oder komplizierten Behandlungsprozessen eine regelmäßig begleitende Erfassung von Symptomatik, Befinden und therapeutischen Prozess durch validierte Instrumente erfolgen (abgeschwächte Empfehlung). Schließlich widmet sich ein ausführlicher Abschnitt den möglichen unerwünschten Wirkungen von Psychotherapie, die lange Zeit kaum beachtet wurden. 

Herzlicher Dank an Herrn Messer!

Im Namen des gesamten Vorstands grüßt Sie herzlich 

Dr. med. Beate Deckert

Präsidentin

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